Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag
106 Doch das schien diese kleinen Kerle nicht zu beeindrucken. Sie schlotterte und bebte vor Angst. Mit ihren Händen suchte sie nach einem Stein, wollte ihn gerade werfen. Doch dann hielt sie inne. Sie wollte diese Kerle nicht noch gegen sich aufhetzen. Es waren viele, zu viele, und Anneli war allein. Sie faltete unwillkürlich ihre Hände zum Gebet und versuchte verzweifelt, sich an all die vielen Geschichten zu erinnern, die ihr der Vater aus der Thora erzählt hatte. Doch nur unbedeu- tende Bruchstücke kamen der Geplagten in den Sinn. „Oh Gott, oh Gott! Wenn es Dich wirklich gibt, dann hilf mir und beschütze mich jetzt!“ Da, auf einmal stiegen von weit her Worte in ihrer Seele auf. Sie horchte in sich hinein – dann vernahm sie es ganz deutlich … Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Und wenn ich auch wandere im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln! „Wenn ich auch – wandere im finsteren Tal, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir!“ Sie wiederholte diese Worte halb- laut. Wie nannte sie ihr Vater doch? … Ah, Psalmen! Anneli spürte plötzlich einen Frieden, der sie wie in einen beschützen- den Mantel einhüllte. Immer und immer wieder sprach sie diese Worte aus, und auf einmal fühlte sie sich nicht mehr so bedroht. Ja, da war etwas wie Hoffnung – die Hoffnung auf Freiheit. Würde Anneli sie finden? In Gedanken versunken spielte sie mit den Steinchen, die auf dem Turmboden herumlagen, und konnte für einen Moment ihr Elend vergessen.
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