Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag

16 sind, werde ich auf dich schauen. Keine Angst, ich tue dir nichts. Ich habe selber Kinder!“ Selber Kinder?, musste Anneli denken. Nein, das kann nicht sein. Der lügt bestimmt! Wenn er wirklich ein Vater wäre, könnte er niemals ande- ren Kindern die eigenen Eltern wegnehmen. Er müsste doch wissen, wie unendlich das schmerzt. Nein, der ist genau gleich wie die anderen … Vielleicht tut er nur so freundlich, weil ihn sein Gewissen jetzt plagt. Die Glieder schmerzten immer noch, und bei jedem Ruck rie- ben die rauen Stricke an der zarten Kinderhaut. Anneli bewegte immer wieder die Zehen auf und ab, damit ihre kleinen Füsse nicht einschliefen. Gibt es keine Möglichkeit zur Flucht? Heftig riss sie an ihren Fesseln, doch diese lockerten sich in keinster Weise, sondern schnitten nur noch tiefer in ihre Handgelenke ein. Nein, das nützt nichts, aber vielleicht kriege ich die Füsse irgendwie frei. Sie bewegte heftig und ruckartig ihre Beine, aber alle Verren- kungen und Anstrengungen waren vergeblich und vermehrten nur die Schmerzen an den Sprunggelenken. Entmutigt gab sie auf. Ihr ohnehin schon schwacher Widerstand war im Nu gebro- chen und wieder breitete sich diese lähmende Ohnmacht in ihr aus, die sie völlig verzweifeln liess. Es gab niemanden, der wusste, wo sie war und wie sie sich fühlte. Keinen, der sie befreien würde, keinen der sie liebte! Keinen? – Gott? – Ja, wo war Er denn? Auf einmal wurde Anneli bewusst, dass sie gar nie richtig mit diesem grossen Gott geredet hatte. Ja, natürlich hatten sie im- mer vor dem Essen ihre Dankgebete gesprochen oder beim Pas- sah die vorgeschriebenen Psalmverse gelesen und gebetet. Auch um Schutz riefen sie diesen Gott immer wieder an, aber ob Er jetzt, gerade jetzt mich sieht und weiss, wie es mir geht?, fragte sie sich. Mama, liebe Mama, du hast doch immer gesagt, Gott liebt mich. Weshalb seid ihr aber jetzt alle tot und ich liege hier so völlig alleine, gefesselt, verzweifelt und ach …

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