Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag

72 Am Ende des Ganges gelangten die Kinder zu einer Holztür, durch deren Ritzen helles Licht drang. „Könnte es sein, dass wir uns doch nicht in einem Kloster befin- den? Das klingt ja mehr wie in einem Zechhaus!“ Noldi öffnete vorsichtig die Tür, nur einen kleinen Spalt breit. Neugierig spähten die beiden hindurch. Stickige Luft drang Anneli und Noldi entgegen, ein widerlicher Dunst von Wein, Schweiss und gebratenem Fasan. Anneli ver- schlug es den Atem. Mit immer grösser werdenden Augen starr- ten die Kinder in den Raum hinein. Auf einem Tisch befanden sich allerlei Sorten Fleisch, Brot und Trinkkelche. Mönche und Nonnen hielten sich gegenseitig um- schlungen, lagen auf Tischen und Bänken, einige sogar auf dem Boden zwischen den Essensresten. Das schien ihnen Vergnügen zu bereiten – nein, sie … Was machen die da ?, fragte sich Anneli. Einer der Mönche riss gerade eine Keule aus dem gebratenen Truthahn. Daneben grölte ein anderer, hielt einen Becher em- por und biss der Nonne, die er in seinem Arm hielt, lüstern in den Hals. Sie schrie belustigt auf. Andere schmatzten und rülps- ten laut. Das Gelächter der Nonnen übertönte die Stimmen der Mönche. Einige lagen entblösst übereinander, kicherten und stöhnten. Anneli schluckte. Schwindel und Ekel drückten ihr die Luft ab und sie drehte sich mit Schaudern weg. „Die … die Nonne hat doch gesagt, dass sich Männer und Frauen aus dem Weg gehen sollen. Aber hast du gesehen, was die da Furchtbares gemacht haben?“ Schnell schloss Noldi die Tür. „Das war wohl nicht für unsere Augen bestimmt“, flüsterte er und schaute auf den Boden. Noldis Blick schweifte kurz umher. „Hier geht der Flur auch nicht mehr weiter. Wir müssen ein andermal einen Weg in die Freiheit suchen. Komm, Anneli, ich bring dich zurück.“

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