Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag

96 Anneli stieg Ekel die Kehle hoch, sie musste würgen. Ihr wurde ganz heiss und schwindelig. Sie griff Noldis Arm, um Halt zu finden und nicht von der Steinschräge herunterzurutschen. Die zischende Stimme der Oberin schnitt ihr durch das Herz. „Du Törin, wenn du dich schon nicht enthalten kannst, dann lehre deinen Männern wenigstens das Abspringen! Nabelt es ab und tragt es hinaus zum Garten!“ Was? NEIN – das Baby! Daniel! Nicht umbringen! Mama, Papa! Der bittere Geschmack der grausamsten Momente ihres Lebens er- füllte Annelis Herz. Noldi blickte in das angstverzerrte Gesicht seiner Freundin. „Nein, Anneli, nicht!“ Er versuchte sie zurückzuhalten. Doch das Mädchen stürzte sich mit einem Satz die Steinschräge des Fens- ters hinunter, mitten in das Getümmel der Nonnen. „Nein!!! Nein!!! Nicht in den Garten! Bitte, nicht in den Gar- ten!! Tötet das Kindlein nicht! Bitte, ich will für es sorgen, aber tötet es nicht!!“ Unter Tränen flehte die Kleine eindringlich die Frauen an. „Wie kommst du jetzt plötzlich hierher?“ Wieder diese klirrende Stimme der Oberin. „Vielleicht sollten wir sie auch gleich mit zum Garten runter- nehmen“, meinte eine Nonne höhnisch. Das Mädchen bebte am ganzen Körper. Eine schauerliche Todesahnung beschlich sie. Sie schluchzte ver- zweifelt und faltete die Hände. Um Erbarmen ringend bettelte sie: „Nein, bitte lasst mich, ich will nicht sterben!! Ich will nicht sterben!!!“ Mit hartem Griff fasste die Oberin das zarte Kinn Annelis und riss ihren Kopf nach oben. „Hör mal zu, du freche Göre. Wenn du jetzt auf der Stelle schwörst, dass du Zeit deines Lebens nie jemandem erzählst, was du eben gesehen hast, lassen wir dich am Leben.“ Dabei hielt sie dem Mädchen ihr stechend silbriges Kreuz vors Gesicht, als ob sie die Kleine dadurch zur Sprachlosigkeit verfluchen könnte.

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