Gläubig oder glaubend? - Ivo Sasek - Elaion-Verlag

Das Wesen der Barmherzigkeit 83 „Und er verband seine Wunden“ (V. 34) . Die Situation der Geschichte drängt zu der Annahme, dass der Samariter das Verbandsmaterial spontan aus seinem eigenen Rock gerissen hat. Die Barmherzigkeit gibt immer ein Stück von sich selbst. Sie fragt nicht: „Woher so viel Verbandstoff?“ Sie gibt von dem, was einem ans Innerste geht. Wie viele sind heute noch bereit, es ihr gleich zu tun? Wie mancher Verletzte musste schon am Unfallort verbluten, weil es keinem der Schaulus- tigen in den Sinn gekommen war, dessen offene Wunde mit einem Stück Stoff aus dem eigenen teuren Kleid zu verbinden. Sind uns unsere Kleider nicht zu Götzen geworden? Die Barmherzigkeit aber geht noch weiter . „Er goss Öl und Wein auf seine Wunden“ (V. 34) . Öl und Wein waren zu bib- lischen Zeiten die wichtigsten Nahrungsmittel. Gerade diese zwei aber wurden bezeichnenderweise auch als wirksame Arznei verwendet. Hierin liegt eben das Geheimnis einer wirksamen Nächstenliebe: Die Barmherzigkeit ist deshalb so kraftvoll, weil sie von dem gibt, was man selber am nötigs- ten braucht. Wer immer darum seinem Nächsten von seinem eigenen „Öl und Wein“ gibt, wird erfahren, dass Gott beson- ders da hinein heilenden Segen gelegt hat. Wer sein Bestes zurückhält, kann viel geben und dennoch nichts erreichen. Dann setzte der Samariter den Verwundeten „auf sein eigenes Tier“ (V. 34) . Mit anderen Worten: Er ging fortan zu Fuss weiter. Die Barmherzigkeit kann auf eigenen Luxus ver- zichten. Wahre Barmherzigkeit kann nicht vom „hohen Ross“ aus praktiziert werden! Sie ist demütig und niedrig. Sie kümmert sich nicht um die Meinung ihrer Kritiker. Der in dieser Geschichte erwähnte Levit und der Priester hätten möglicherweise schmähend auf diesen Verwundeten-Trans-

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